von Esther-Maria Roos
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03 Okt., 2022
Auf dem Markt war kurz vor dem langen Wochenende sehr viel los und daher gab es kurz vor Schluss wirklich nur noch eine einzige Orange im Angebot. Gleichzeitig wollten nun zwei Kundinnen genau diese eine Orange kaufen. Was konnte der Verkäufer tun? Der erste Impuls wäre vielleicht gewesen, die Orange zu halbieren. Aber der Verkäufer tat etwas anderes. Er fragte, was die Kundinnen denn mit der Frucht machen wollten. Es kam heraus, dass eine Frau Saft pressen wollte und die andere einen Kuchen backen, der durch die Schale aromatisiert wurde. Die Lösung war nun schnell gefunden – die Damen verständigten sich darauf, dass zuerst der Saft gepresst würde und anschließend der Rest der Orange der anderen zum Kuchenbacken überlassen wird. Sie waren beide zufrieden und konnten ihre Pläne verwirklichen. Die Geschichte von der Orange ist ein Klassiker in der Mediationsausbildung, denn man erkennt hieran besonders gut zwei Dinge. Man muss einen Wunsch (die sogenannte „Position“) hinterfragen, um das eigentliche Interesse zu erkennen Kennt man das eigentlichen Interesse einer Person, werden Lösungen einfach Etwas anderes sieht man übrigens an diesem Beispiel auch noch: Der Kompromiss (also hier die Halbierung der Orange) wäre für beide Seiten nur bedingt hilfreich gewesen, denn beiden hätte es für ihr eigentliches Ziel nicht gereicht. Vielleicht hätte eine Seite daraus mehr Nutzen ziehen können als die andere (der Kuchenbäckerin hätte vielleicht auch die halbe Menge der Schale gereicht, während die Saftpresserin schlicht und einfach zu wenig gehabt hätte). Zwar hätten sie objektiv das Gleiche erhalten, aber der individuelle Wert wäre sehr unterschiedlich gewesen. Das kann in der Folge zu weiteren Konflikten – bzw. dem Gefühl der dauerhaften Benachteiligung – führen. Bei einer Mediation konzentriert man sich auf das Herausarbeiten der Interessen der Beteiligten. Diese sind sehr oft verschleiert durch Wünsche oder Forderungen, die die Streitparteien nach außen tragen. Das eigentliche Interesse der einzelnen Streitpartei wird sehr oft im Vorfeld nicht ausgesprochen, weil man es für unerheblich hält oder nicht zu viel preisgeben möchte. Manchmal aber, ist es auch der Partei selbst gar nicht so bewusst. Daher ist das Herausarbeiten des Interesses ein wichtiger Schritt. Ganz nebenbei baut sich hier oft auch ein Vertrauen der streitenden Parteien zueinander auf, das sie vielleicht vorher verloren glaubten. Wenn die Parteien das Interesse des jeweils anderen nachvollziehen können, dann ist viel gewonnen und der Weg für individuelle Lösungsansätze frei. Zugegeben, nicht immer ist die Lösung so glatt wie in der Geschichte mit der Orange, aber die Suche nach den Interessen bringt allen Beteiligten viel Klarheit und öffnet die Chance für tragbare Lösungen. Als Mediatorin ist es meine Aufgabe, die Beteiligten durch diese Phase zu führen und sie beim Finden ihrer jeweils besten Lösung zu unterstützen.